Wie gestern beschrieben, stehen wir am Taschkuh, dem Feuerberg. Und bekommen eine Einladung nach der anderen. Überall im Iran erzählt man uns, dass die Menschen in dieser Region, im Westen Irans, viel gastfreundlicher und überhaupt freundlicher sind. Wir sind sowieso schon überwältigt, da geht noch mehr? Wir können es kaum glauben.
Hier treffen wir einen jungen Mann, der mit seiner Drohne über den Feuerberg fliegt. Wir kommen ins Gespräch, es «matcht» sofort. Er ist Iraner, lebt aber schon seit Jahren in Finnland. Sein Englisch ist top, nach Finnisch fragen wir lieber nicht, das ist für uns eine Sprache mit sieben Siegeln.
Es kommt, was kommen muss (so unsere Erfahrung): eine Einladung. Ihr könnt gerne bei uns wohnen, duschen, essen. Ich lache. Wir sagen erst einmal nein. Dann wird die Einladung wiederholt. Ich lächle milde und frage: «Ist das Taroof?» Er lacht, schüttelt den Kopf und sagt: «Nein, kein Taroof, das ist wirklich ernst gemeint.» (Taroof haben wir hier beschrieben)
Gerd und ich sehen uns an, mittlerweile wollen wir auch nicht mehr auf dem Berg schlafen, die Gase stinken zum Himmel und die Romantik würden wir hier bei geschlossenem Fenster sowieso nicht sehen und wir nicken uns zu. Okay, fahren wir.
Eine halbe Stunde später parken wir in einer ruhigen Gasse und werden von Schwestern, Müttern, Onkeln, Cousins und Babys empfangen. Und es wird aufgetischt, äh, aufgeteppicht. Tee hier, Safrantee dort, Datteln, Bonbons. Teilchen, wie Windbeutel oder Spritzkuchen, in Mini. Wir knabbern hier und da, und ich sage heimlich zu Gerd, dass es bestimmt noch ein «richtiges» Abendessen gibt. So versuchen wir uns zurückzuhalten. Und: ich behalte recht: der Grill wird angeworfen, die Familie wächst auf unerklärliche Weise noch einmal an und als die «Tischfolie» ausgerollt wird, ist das Wohnzimmer voll und der Tisch würde sich, hätte er Beine, biegen.
Was uns hier immer wieder fasziniert, ist die Gelassenheit, mit der gemeinsam geschnippelt, gekocht, gebraten und gegessen wird. Es ist egal, ob Platz für alle ist. Es wird einfach Platz gemacht. Irgendwo findet sich schon ein Kissen für die Rückenlehne. Teller, alle gleich? Ist doch egal. Besteck? Löffel und Gabeln (Messer habe ich nur für Obst gesehen) kommen aus allen möglichen Sammlungen. Servietten? Eine Zupfbox Tempos reicht. Alle reden, alle hören zu. Alle durcheinander. Und vor allem: alle miteinander. Nie läuft hier beim Essen der Fernseher. Selten klingelt ein Telefon.
Wir werden befragt, alles wird den Familienmitgliedern, die kein Englisch können, übersetzt. Nach dem Essen (man will auf keinen Fall, dass wir helfen ab- oder auszuräumen) stricke ich ein bisschen, vor allem die Damen staunen. Dann dürfen wir mit dem Baby schmusen. Auch das ist irgendwie ganz anders als bei uns: Babys sind immer mittendrin. Wahrscheinlich müssen sie sich von Anfang an an die iranischen Dezibel gewöhnen. Hochsensibilität oder Lärmempfindlichkeit, wie ich sie mir leiste, kann ich mir in einer iranischen Familie nicht vorstellen. Dass das Baby von Schoss zu Schoss gereicht wird, das ist einfach cool. So wird das Grossfamilienmodell von Anfang an weitergegeben. Um ein Kind grosszuziehen, braucht man ein Dorf, heisst es. Hier im Iran reicht dafür eine einzige Familie.
Wir fragen wieder: Wer ist jetzt mit wem verwandt, wer von wem ist die Mama, der Cousin, der Onkel und so weiter. Man ist wirklich bereit, uns alles zu erklären. Aber wir verstehen es einfach nicht. Oder besser gesagt: Eine halbe Stunde später können wir uns kaum noch an etwas erinnern.
Die Familie berichtet von 8 bis 14 Kindern pro Paar (in den älteren Generationen, die jüngeren haben weniger Kinder, bemerken wir). Jeder Bruder, jede Schwester noch einmal 8 bis 14 Kinder. Während meine Finger nicht mehr reichen und über meine Rechenversuche gelacht wird, sagen sie ziemlich einhellig: Wir sind etwa 500. So im engsten Familienkreis. Und übernächste Woche haben wir eine Hochzeit, da kommen 2000 Leute. Da sind wir platt. Dann kann man nicht mal mit jedem Gast ein paar Worte wechseln, werfe ich ein. Oder gar alle Namen kennen. Sie lachen, schauen sich an und sind sich einig, dass sie meine Einwände nicht verstehen. Wo ist das Problem?
Ja, wo ist das Problem?
Meine Güte, wir, mit unseren 32 Gästen bei unserer Hochzeit vor ein paar Jahren, wir haben doch wirklich seltsame Ansprüche: mit jedem reden, für jeden ein bisschen Zeit haben wollen. Aber so ist das eben.
Geh mal reisen, dann siehst du, dass es so viele verschiedene Lebensweisen gibt. So viele Herangehensweisen und so viele verschiedene Arten zu heiraten. Geh mal reisen, dann siehst du, dass wir nicht der Nabel der Welt sind, nicht das Maß aller Dinge!
Wollten wir vor ein, zwei Stunden noch allein in unserem Camper am Feuerberg sein, so geniessen wir heute Abend den Plot-Twist des Tages!
Fotos? Haben wir vergessen, zu machen. Ganz einfach!
Merci fürs «Mitreisen»
Hier findet ihr unsere künftigen Vorträge:
Termin: 24. November 2024 16 Uhr (Türöffnung 15 Uhr)
Ort: Deutschland, Landgasthof zum Mühlenteich 15345 Eggersdorf bei Berlin
Anmeldung: https://forms.gle/5XFgSz31NKzmCzmT8
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Wunderbar ist das. 🥰
Das ist mir bei meinen Reisen auch oft aufgefallen:
Zusammenhalt in der Familie. 👍
Teilen was man hat.
Mit allen.
Das versuche mal hier bei uns. 😂🤣
Tja, geniesst es einfach.
Aber das macht ihr ja. 👍
Was für mich interessant wäre:
Höflichkeit und Respekt
Welche Regeln gibt’s da ?
Gibt es überhaupt welche ?
Doof ist immer wenn man in ungewohntes Terrain kommt, wie macht man es, damit man nichts falsch macht ?
Bei uns macht man als „Fremder“ eigentlich IMMER , ALLES falsch. 😁
Liebe Grüße aus dem kalten Bayern mit Schnee…….
s’Racheli
Ich finde, dass auch in Mitteleuropa viele Familien Zusammenhalt leben. Anders zwar, aber auch. Besonders, wenn was ist, ist es normal, sich zu helfen. Das alltägliche Leben findet zwar deutlich individualisierter statt, aber das ist ja auch immer eine eigene Entscheidung.
Höflichkeit ist ähnlich wie bei uns: Manchmal wird mit die Tür aufgehalten, manchmal nicht. Manchmal wartet man, bis allem am Tisch (Teppich) sitzen, manchmal nicht. Manchmal kommt man einfach in unseren Van, manchmal fragt man höflich. Das direkte hineingehen kennen wir aus der Schweiz und aus Deutschland nicht.
Regeln für andere Länder?
Ich glaube, mit einer guten Kinderstube und einer gehörigen Portion Achtsamkeit ist man sehr gut beraten. Lieber einmal höflicher als normal als einmal zu wenig.
Fragen, was dieses und jenes bedeutet, ist ja auch eine Art Völkerverständigung. Fragen, was ihnen recht ist. Nichts voraussetzen. Immer achtsam sein. Aber auch grenzen aufzeigen wie „Ich bin wirklich satt“ oder das Glas zudecken mit einem Löffel. Manchmal sage ich auch, was nebeneinandergelegtes Besteck in Deutschland bedeutet: Ich bin satt, damit der Kellner abräumen kann. Das finden sie witzig, merken es sich aber sofort und schauen ständig auf unser Besteck.
Und ich finde, man kann auch in Deutschland alles falsch oder alles richtig machen: das hängt gar nicht vom Fremden ab sondern vom Einheimischen: der oder die nämlich darf auch mal sehen, dass der Fremde eben eine andere Kultur mitbringt. Und dann nicht gleich negativ bewerten, sondern höflich fragen, ob man es mal erklären darf: „Wir warten immer, bis alle am Tisch die Teller voll haben, erst dann beginnen wir zu essen.“ oder „In unserem Land ist es üblich, nach dem Essen abräumen zu helfen.“ oder ganz witzig, oft in Iran durchgeführt: „In der Schweiz sind Frau und Mann gleichberechtigt, wir sprechen alles ab, aber niemals muss die Frau um Erlaubnis fragen.“
Nur durch derlei Erzählungen und Hilfestellungen gelingt Völkerverständigung, nie im Vorwurf oder Lächerlichmachen.
Puh, war jetzt lang, sorry.
Alles gut.
Dankeschön, dass du dir die Zeit genommen hast.
Ich habe gefragt und eine schöne und ausführliche Antwort bekommen.
👍🙏😘
Très belle rencontre . Que les Iraniens sont cool !
Oui, ils le sont. La plupart du temps en tout cas. 😉