«So toll! – Immer unterwegs sein, Ihr lebt meinen Traum!»

«So toll! – Immer unterwegs sein, Ihr lebt meinen Traum!» Lesedauer etwa 9 Minuten.

Es ist wieder einmal so weit.

Es geht erneut darum, dass wir den Traum anderer leben. Ein weiteres Mal möchte ich mit diesem Mythos aufräumen, dass wir den Traum anderer leben. Ich habe das schon einmal geschrieben: Wir leben tatsächlich nur unseren eigenen Traum. Wir wissen gar nicht genau, was die anderen träumen. Und warum sollten wir die Träume von anderen leben?

Viele Fragen. Und am liebsten würde ich jedem, der uns das entgegenruft, eben jene Fragen stellen.

Aber das wiederum ist dann irgendwie unhöflich, weil man eigentlich, glaube ich, etwas anderes sagen hätte wollen. Man möchte sagen: «Ja, genauso wie ihr möchte ich auch leben.», oder «So mutig wie ihr möchte ich auch gern sein.» Manchmal höre ich zwischen den Zeilen auch das: «Oder am liebsten würde ich ausbrechen; es kotzt mich alles an.»

Wir stehen gerade in Hoyerswerda, im absoluten Osten. Hoyerswerda mag nicht den besten Ruf geniessen, doch ich frage mich oft, woher dieser schlechte Ruf eigentlich stammt. Denn in all der Zeit, die wir hier verbracht haben, sind uns nur wunderbare Menschen begegnet. Wir stehen bei Freunden auf dem Hof, mit Brötchen-Service und Quarkbällchen-Kaffeetafel, mit Familien-Anschluss und gemütlichen Abenden am Kamin mit Freunden.

Wir durften hier einen Vortrag über unsere Reise durch den Iran halten, und wir haben versucht, die Menschen mit der Magie Persiens zu verzaubern. Und, wenn wir das Feedback richtig interpretierten, ist uns das gelungen.

Wieder einmal merken wir, wie sehr wir das geniessen, was wir uns selbst ausgesucht haben. Unser Leben alles in allem ist schon ziemlich wunderbar. Und das Beste daran ist: Selbst entschieden. Lange geplant, lange entbehrt, dann irgendwann umgesetzt und ständig neu justiert. (Das bleibt nicht aus, leider – ewig diese Planändereien!)

«Oh, ich möchte auch so leben wie ihr!», hören wir oft, egal in welchem Land wir unterwegs sind. In der Schweiz hören wir eher ein trauriges «Das hätten wir auch früher machen sollen, jetzt ist es zu spät.» In der Türkei leuchten die Augen bei «Oh, ihr könnt das ganze Jahr am Strand stehen.» Wir könnten derlei Staunen-Ausrufe unendlich fortführen.

Und ja, wir leben unseren Traum, unseren wohlgemerkt. Wir leben das, wofür wir uns im tiefsten Innern unserer Herzen entschieden haben und alles, wirklich alles dafür getan haben. Die eigene Wohnung aufgelöst, sich für lange Zeit von Freunden und Familie verabschiedet, sämtlichen belastenden Krempel (ich sage nur Keller, übervolle Küchenschubladen und vergessene Kisten hoch oben auf dem Kleiderschrank) losgeworden. Befreiend war zumindest der Teil mit dem Krempel. Bezüglich der Familie und der Freunde steht in 2026 ja wieder mal eine Planänderung an.)

Und wir treffen so viele Reisende. Overlander nennen sie sich selbst gern, manche nennen sich auch Abenteurer. Oder einfach nur Reisende. Kaum jemand spricht von Urlaubern. Aber darum geht es uns gar nicht, egal wie sich jemand nennen mag, es ist seine ganz eigene Art zu reisen, unterwegs zu sein.

Wir haben wirkliche Abenteurer kennen und sogar schätzen gelernt. Das sind die Verrückten, Durchgeknallten, Abenteuerlichen und vor allem Mutigen. Das sind die, die wir nur bewundernd bestaunen können. Nie im Leben würden wir derlei Reisen unternehmen und in derlei Länder pilgern. Wir erfreuen uns an ihren Geschichten, lassen sie aber schön selber reisen.

Es gibt die Rucksackreisenden und die, die mit dem Velo sich und ihr ganzes Hab und Gut herumkurven. Es gibt Motorrad-Traveller und Camper. Und es gibt welche, die einen Einkaufswagen von Rewe oder so vor sich herschieben und von China bis Europa laufen.

Dann gibt es die richtigen Langzeitreisenden, über Kontinente, durch alle möglichen Zeit- und Klimazonen. Jahrelang getrennt von ihren Familien. Manche reisen seit Jahren als Familie, die Kinder lernen die Welt kennen und manche haben sogar ihre Schule im Laptop dabei.

Es gibt Paare, Einzelreisende, Familien, Freundesgruppen. Alles dabei.

Dann gibt es welche, die nur für ein einziges europäisches Land zwei Jahre brauchen (Slowtraveller bewundern wir sehr!) , andere zählen die Menge der Länder, die sie im Monat «schaffen». Es gibt die, die immer wieder mal heim müssen, andere eben nicht.

Dann gibt es die, die täglich Tagebuch schreiben, on- oder offline. Andere nehmen ihre Reise auf Video auf, wieder andere leben im Moment und reisen «just now». Es gibt jene, die stets genau wissen, wie viele Länder sie schon bereist haben und wie viele noch fehlen. Und es gibt uns, die auf diese Frage nur mit den Schultern zucken. Es sind für uns nur Zahlen, unwichtige Zahlen. Für andere eben Zahlen, wichtige Zahlen.

Es gibt Reisende, die mit einem Tagesbudget von 5 Euro pro Tag auskommen, andere wissen nichts über ihre Kosten. Wieder andere liegen irgendwo dazwischen. Es gibt die Reisenden, die für ihre Reise im Vorfeld sparen und reisen, solange etwas im Portemonnaie ist, andere arbeiten unterwegs oder immer mal wieder in Reisepausen, um dann wieder loszuziehen.

Es gibt die, die überall alles aus den landestypischen Küchen probieren und jene, die überall eine Vegi-Version wählen. Wir trafen auch jene, die überall das Bekannte (Schnitzel, Kartoffeln, Pizza?) suchten. Es gibt die, die alle ortsüblichen Getränke in ortsüblichen Mengen schlürfen und welche, die bei Wasser, Kaffee & Tee bleiben.

Es gibt eigentlich alle möglichen Varianten von Reisenden. Uns sind sogar Rassisten und Flat-Earther begegnet. Was wir nie erwartet hätten. Denn wer die Welt bereist, kann eigentlich die Welt nicht aus seinen Gedanken ausschliessen. Aber eben: auch das gibt es.

Also: was heisst denn jetzt: «Ihr lebt meinen Traum» genau?

Heiss das vielleicht nur, dass der- oder diejenige auch reisen will? Dass die Person von der Möglichkeit Gebrauch machen möchte? Vielleicht träumt die Person nur von der Möglichkeit der Freiheit, gar nicht vom Reisen selbst? Vielleicht will sie in fremde Kulturen eintauchen, ohne jedoch viel dafür zu tun? Vielleicht liess sich die Person auch von dem Vanlife-Hype in den sozialen Medien, wo immer alles nur schön und bunt und gut ist, ja, sagen wir mal freundlich, ein wenig verzaubern? Oder ist es eher ein so dahingesagter Satz wie «wenn ich mal im Lotto gewinne, dann…» ohne je Lotto zu spielen?

Was wir sagen können, ist, dass unser Traum neben all den wunderschönen Erlebnissen und Begegnungen auch eine Menge Arbeit und manchmal auch richtig doof ist:

  • Eine der grössten Arbeiten ist, 24/7 mit dem selbst ausgesuchten Partner zu leben. Und das führt unweigerlich zu der grössten Beziehungsarbeit, die wir uns hätten vorstellen können. Für die wir jedoch sehr dankbar sind. (Meistens allerdings erst später.)
  • Die Familie und Freunde nur über Facetime sehen. Heimweh und fehlende Nähe inklusive.
  • 24/7 alles mit dem Partner zu teilen, auch Socken nach langen Wanderungen, Haut nach langen Tagen ohne Dusche oder Düfte aus dem Bad nach dem Genuss von Spargel oder Blumenkohl – you name it!
  • Jeden Tag müssen wir unendlich viele Eindrücke, meist neue, verarbeiten. Hier die Sprache, dort die Verkehrsregeln. Wieder woanders Verhaltensregeln. Stellplätze oder Wettervorhersagen. Unsere Köpfe rattern eigentlich ständig.

Aber auch – alles selbstgewählt:

  • Geld verdienen, denn wir sind keine Millionäre (vielleicht sollten wir doch mal das mit dem Lotto versuchen?)
  • Regelmässig Wasser besorgen
  • Regelmässig Dreckwasser entsorgen
  • Jeden Tag mehrfach abwaschen, da wir nur 2 Teller haben und leider keinen Geschirrspüler
  • Ständig Gas, Strom, Wasser, Benzin, Reifendruck, Komposttoilette im Blick haben
  • Nach Gas-Tankstellen suchen
  • So selten wie möglich, aber so oft wie nötig unsere Klamotten und Handtücher, Bettzeug etc. in fremden Waschmaschinen waschen
  • In jeder Stadt, in jedem Geschäft wieder anfangen zu suchen, wo es Haferflocken, Kräuter, Eier und sonst noch Zeug gibt
  • Reiseplanung, Routenplanung, Visum, landestypische Versicherungen organisieren, Geld wechseln
  • Simkarten oder anderes Internet für jedes Land organisieren
  • Schauen, ob für das aktuelle Land genug Wolle zum Stricken in unserem Felix vorhanden ist, andernfalls für Vorräte sorgen (Thema Beziehungsarbeit kommt hier ab und zu an seine Grenzen)
  • Und wenn ich noch länger überlege, kämen noch viele Punkte mehr hinzu.

Also, es gibt tausende oder Millionen Reisende. Jeder einzelne reist anders. Es gibt nicht DEN Reisenden. Genau wie es auch nicht DEN Schweizer gibt oder DIE Deutschen. Es gibt so viele Möglichkeiten, die Welt zu entdecken. Und es gibt ebenso viele Arbeiten, die unterwegs anfallen. Ob man sie macht, liegt dann wohl wieder an jedem Reisenden selbst.

Abschliessend noch zum Traum: All das, was wir hier beschreiben, ist genau unser Traum (okay, das mit den Socken hatte ich nicht einkalkuliert). Es gibt für uns eigentlich nichts Schöneres, als 24/7 zusammen zu sein, alles zu teilen, sich so intensiv miteinander zu beschäftigen, die Zeit in tollen Ländern, wunderschöner Natur, mit herzerfüllenden Begegnungen und mit so viel Kultur und Geschichte zu verbringen.

Und uns ist auch bewusst, dass es nicht jedem möglich ist, so zu leben. Wir haben nichts dafür getan, dass wir in einem Land resp. in Ländern geboren wurden, wo die Möglichkeiten so sind, wie sie sind. (Naja, da wir an Karma glauben, waren wir vielleicht nicht unschuldig, leider haben wir die Details nicht auf dem Schirm.)

Das Einzige, was wir tun können, um nicht an der Weltsituation zu verzweifeln, ist voller Dankbarkeit und Freude dieses uns geschenkte Leben zu leben. Vielleicht zu inspirieren. Vielleicht zu ermuntern. Vielleicht zu helfen.

Und wir sind supersuper dankbar dafür, dass es Menschen gibt, die unsere Reise, ja, vielleicht sogar unsere Lebensreise, verfolgen. Vielen lieben Dank dafür! Jedem und jeder Einzelnen. Merci!

leben pur

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Vortrag
Kamele, Kulturen & viele Kontraste
Leben-pur reisen mit dem Camper durchs geheimnisvolle Persien

05.06.26; 20.30 Uhr Beim Sahara-Club-Treffen in Westhofen / Rheinland-Pfalz
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Leben-pur-Vortrag-Persien

 

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2 Kommentare
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Marco Travaglini
Marco Travaglini
6 Monate zuvor

Coooool mir bliebe dra

Bianka
6 Monate zuvor

Danke für diese sehr gelungene Zusammenfassung. Uns sagt man oft, wir hätten alles richtig gemacht. Wir denken dann immer, dass man Leuten, die uns beneiden, mal für ein paar Wochen ein Wohnmobil und ein kleines Budget zur Verfügung stellen müsste. Sie würden sich sehr wundern, was es bedeutet, so zu leben 😉 Wir haben nach wie vor eine Wohnung für wenige Wochen im Jahr, doch viel mehr genießen wir es, immer wieder unterwegs zu sein. Nächste Woche kommen wir auch in die Lausitz, um Verwandte aus Hoyerswerda zu besuchen. Die Welt ist klein!