«Warum? Warum gerade Iran?»

«Warum? Warum gerade Iran?»
Dieser Beitrag ist Teil der Serie Iran-Infos

Die Frage haben wir uns nie gestellt. Wir reisen gerne, wir wollen viel sehen. Über den Iran haben wir in den letzten Jahren, besonders von anderen Reisenden eigentlich nur Gutes gehört. Warum also nicht?

Woher kommt also die Frage?

Sie kommt von den Iranerinnen und Iranern selbst. Wir hören diese Frage so oft. Nach der Frage, woher wir kommen, ist das eigentlich die zweithäufigste Frage. «Warum seid ihr hier?» «Warum gerade Iran?» «Könnt ihr nicht in bessere Länder reisen?»

Anfangs antworten wir noch «Wegen der Menschen, wegen der Natur, wegen der Landschaft». Später, als wir merken, dass diese Frage einem Muster folgt, fragen wir stattdessen: «Warum nicht?» oder «Warum fragst du das?».

Jetzt merken wir: Hier hat man kein gutes Bild vom eigenen Land. Wir haken nach. Und spüren unendliche Traurigkeit. Und auch Wut. Hilflosigkeit und eines ganz besonders bei den jungen Menschen: Zukunftslosigkeit.

Möglicherweise glauben sie den westlichen Medien ebenso wie viele im sogenannten Westen: denn die Medien zeichnen ein überaus düsteres Bild des Landes, betonen ausschliesslich die politische Seite und vergessen dabei all die Menschen, die Kultur, die Natur, die lange Geschichte der Perser. All das gehört jedoch ebenso zum Bild eines Landes!

Wir treffen hier in Iran unglaublich gut ausgebildete Menschen, noch nie haben wir so viele Menschen mit Master oder Doktorgrad getroffen. Sie studieren alle, weil sie sowieso nichts anderes tun können. Gute, sinnvolle Arbeit gibt es kaum, und wenn, dann nur für die besten. Also wird studiert, bis es keinen weiteren Abschluss mehr gibt. Viele tragen auch die Hoffnung in sich, im Ausland leben zu können.

Oft hören wir von Familienangehörigen, die bereits in Kanada, Finnland, Deutschland oder sonst wo auf der Welt ihr Glück versuchen. «Ja, das wäre schön. Wir haben schon ein Visum beantragt, jetzt heisst es warten und hoffen».

Oft wird in diesen Gesprächen eines deutlich: Sie lieben ihr Land, ihre Kultur, ihre Geschichte, ihre Musik. Eigentlich, wenn wir tiefer bohren, merken wir, dass sie ihr Land wirklich gernhaben. Wäre da nicht die Regierung, die so gar nicht zu diesen liebevollen, herzensguten Menschen passt. Ja, eigentlich ist es alles in allem genau ein Punkt: eben die Landesführung.

Man fragt uns nach der Schweiz, nach Deutschland, nach Europa. Wie es dort sei. Wir müssen feststellen, dass wir als Langzeitreisende gar nicht mehr so genau wissen, wie es ist, in der Schweiz oder in Deutschland zu leben. Versuchen aber, etwas über unsere Länder zu erzählen. Und merken schnell, dass man hier in Iran ein ziemlich verzerrtes, vielleicht sogar veraltetes Bild von unseren Ländern hat.

Die Autoindustrie sei so toll, hören wir. Die Qualität aller Waren sei so wunderbar. Von Rassismus und Ausgrenzung im öffentlichen Diskurs will man nichts hören. Von Burnouts und Depressionen, von den vielen einsamen Menschen in der westlichen Welt haben sie noch nie etwas gehört.

Wir fragen nach. Woher haben sie dieses Bild? Die Antwort kommt prompt: Social Media und die Eltern. Und von denen, die schon im Ausland leben. Aber erzählen sie alles? Als wir eine lange Zugfahrt machen (ich werde noch darüber schreiben, es war toll!), merken wir, dass bei allem Gejammer über die deutsche Bahn, diese immer noch 1000x besser ist als die im Iran, mit der wir gefahren sind. Und als wir Papiertaschentücher kaufen, stelle ich mit Erschrecken fest, dass sie genauso knochig und dünn (irgendwie unbrauchbar) sind wie unsere aus der DDR. Ja, die Qualität der Produkte in Europa ist besser. Das merken wir an jeder Ecke.

Aber wir sagen ihnen auch, dass sie nicht nur den sozialen Medien glauben sollen. Sie wundern sich, dass wir selbst nicht mehr auf Instagram sind, wir könnten doch so tolle Bilder posten. Ja, das könnten wir. Und dann Teil dieser Schönfärberei und Weltverzerrung sein. Nein, wir haben das ein Stück weit durchschaut und wollen das nicht mehr.

Wir fragen weiter: Was ist euch im Iran am liebsten? «Die Familie, der Zusammenhalt» kommt als erstes, fast immer. Natürlich reden wir ja jetzt mit denen, die hier geblieben sind. «Das Essen, die Musik, die schöne Landschaft.»

Ab und zu, je nach Situation, geben wir zu bedenken, dass man das alles im Ausland vermissen könnte. Ja, das wissen sie. Und ja, das würde sie traurig machen. «Aber was sollen wir machen? Wir sehen hier keine richtige Zukunft.»

Da ist sie wieder, diese Zukunftslosigkeit. Meine Güte, wie sie mein Herz schmerzt. Immer wieder muss ich an die vielen Coaches in unserer Welt denken, die sagen: Wenn du wirklich, wirklich etwas willst, kannst du alles erreichen! Klar, wenn du ohne eigenes Zutun im richtigen Land geboren bist, vielleicht. Mit dem richtigen Pass.

In einem der vielen Gespräche teile ich meine Gedanken mit, dass es mir unendlich leid tut, das immer und immer wieder zu hören und doch nichts tun zu können. Eine Freundin, und ich nenne sie jetzt wirklich Freundin, nicht nur Reise-Bekannte, entlässt mich aus meiner Verantwortung mit den Worten: «Du musst dafür keine Verantwortung übernehmen. Das kannst du genauso wenig wie wir. Aber ihr gebt uns die Hoffnung, dass unser Land es wert ist, bereist zu werden. Ihr gebt uns ein Stück Selbstvertrauen zurück mit euren Gesprächen und euren Ansichten in eurem Blog. Dass unser Land doch ein schönes, ein gutes Land ist. Okay, die Regierung könnte besser sein, aber der Rest ist eigentlich wunderbar!»

Danke, ihr Lieben! Danke noch einmal an alle Iranerinnen und Iraner, die sich uns öffnen, die uns ihre Geschichte erzählen, die uns erahnen lassen, was es heisst, in Iran zu leben. Denn durch die vielen Lebensgeschichten, die vielen Fragen, die vielen Gespräche können wir eine Art Durchschnitt spüren. Denn wenn man nur eine Person befragt, kann das nicht DIE eine Meinung der Iraner sein. Das ist immer gefährlich. Deshalb sind wir so dankbar für die Offenheit, die Freundlichkeit, die Kontaktfreudigkeit aller, mit denen wir ins Gespräch gekommen sind.

«Warum? Warum gerade Iran?»
«Warum? Warum gerade Iran?»

Merci fürs «Mitreisen»

Wir überlegen, im Sommer wieder eine Reisepause zu machen und unsere Familien in Deutschland und der Schweiz zu besuchen. Mit dabei ist eine Idee, einen Vortrag über unsere lange Reise bis an den persischen Golf vorzubereiten. Falls Ihr Lust hättet, was würde euch am meisten interessieren? Hier werden wir auch Geschichten erzählen, die hier auf dem Blog keinen Platz finden. Wir denken an den Raum Bern und Berlin – einfach, weil wir da Familie haben. Aber auch andere Orte wären vorstellbar. Schreibt uns gern.

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1 Kommentar
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Rachel
Rachel
15 Tage zuvor

Dankeschön Heike.
Ich weine gerade. 😢

Immer wieder frage ich mich:
Wie ist es möglich, dass solche Männer an die Macht eines Landes kommen, sich dort halten können und das Volk so weit unten halten können?

Sind es die Waffen, die sie haben?

Traurig für die jungen Menschen in solchen Ländern. 😔
Wunderschöne und intelligente Menschen dort.
Welch eine Vergeudung dieser Leben.
Und wir können nichts tun. 😢

Doch könnten wir.
Wir könnten die, die es geschafft haben in unsere Länder zu kommen, herzlich aufnehmen und unterstützen bei Ihrer Integration.
Aber wir sind derart zerfressen von Missgunst und Neid, dass mir ganz schlecht wird, beim dran denken.

Gute Reise euch beiden.

s’Racheli

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