Baltikum – Narva: Leben an der Grenze zwischen Estland und Russland

Baltikum – Narva: Leben an der Grenze zwischen Estland und Russland Lesedauer etwa 5 Minuten.

Wir kommen in Narva an. Eine ziemlich verschlossene Stadt. Wir finden einen Platz für die Nacht, direkt an der Narva, und machen uns auf den Weg entlang des Flusses. Die Narva, eine Landesgrenze und der neue eiserne Vorhang. Das war mir bisher gar nicht so bewusst, aber jetzt, wo ich darüber nachdenke, kribbelt es mir den Nacken hoch. Auf der einen Seite Estland, Europa, NATO, auf der anderen Russland. Hoch oben zwei Festungen, hüben wie drüben. Für uns ist kein Übergang möglich. Die Grenze ist nur für jene, die den richtigen Pass tragen, offen: den russischen oder den estnischen Pass. Anders gesagt: wir stehen vor einer unsichtbaren Mauer, die ebenso undurchlässig ist wie eben alle Mauern. Wer hat sich eigentlich Grenzen ausgedacht? Und Mauern. So ein Blödsinn, denken wir.

Es zieht in uns: St. Petersburg, nur 150 Kilometer jenseits des Flusses. Wir möchten dorthin, ich war dort, damals, in den achtziger Jahren, als die Stadt noch Leningrad hiess. Damals wie heute ist der Name gross. Heute ist es nur noch Erinnerung in meinem Herzen. Ich hoffe, eines Tages Gerd die Stadt zeigen zu können, diesen Ort, an dem wir die russische Geschichte erleben können.

Doch was ist Narva selbst? Eine Grenzstadt, ja. Man spricht hier hauptsächlich russisch. Schön, denn ich liebe den Klang dieser Sprache. Wir finden leider keinen Guide, keine Stimme, die uns durch ihre Strassen begleitet. Also graben wir nach Infos in unserem Smartphone.

Narva ist die drittgrösste Stadt Estlands, ist ein Zentrum für alles, was Übergang bedeutet. 1171 taucht der Name erstmals auf. 1302 Stadtrecht. Verschiedene Mächte haben sich hier geduldig aneinandergereiht: Dänen, Deutscher Orden, Schweden, Russen. Und mittendrin: die Schlacht im grossen Nordischen Krieg. Und 1721 – endgültig das Zarenreich.

Im 19. Jahrhundert verliert Narva den Hafen, aber nicht die Kraft. Die Kreenholm-Manufaktur, die wir später noch besuchen werden, wird bedeutend, nicht nur für die Arbeiter vor Ort. Später kommen Arbeiter aus dem riesigen Sowjetreich, Ströme von Russischsprachigen, die das Gefüge der Stadt neu schreiben. Die Folge: fast 95 Prozent sprechen hier Russisch. Estland wirkt seltsam fern. Und ich bin verliebt, denn der Klang der russischen Sprache klingt nach Kindheit, nach Erinnerungen.

Der Zweite Weltkrieg schlug hier tief ein. Zwischen 1941 und 1944 wurde fast alles zerstört. Die Altstadt verschwand – und an ihre Stelle trat ein Raster sowjetischer Häuser, nüchterne Blöcke, ohne Schönheit. Eher Brutalismus-Beton.

Und überall lauern Risse, Spaltungen: ethnisch, sprachlich, sozial. Kaum anders zu erwarten an einem Ort, der Grenze ist. Hier sprechen fast alle Russisch, und zugleich bemüht sich Estland, seine Sprache, seine Kultur zu behaupten. Nach aussen: die EU, nach innen: Russland im Herzen vieler Menschen.

Dann stehen wir vor der Hermannsfeste. Mitte des 13. Jahrhunderts von den Dänen gebaut. Der Turm «Langer Hermann» – als wenn auch ein Turm einen Namen tragen müsse – ragt über die Narva. Von drüben «grüsst» Iwangorod, sehr nah. Sehr schräg, hier das eine, drüben das andere Land. Es verwirrt uns eher als dass es uns gefällt.

Wie gern hätten wir am Ufer in einem Café gesessen, den Blick aufs Wasser genossen. Aber sowas gibt es hier nicht. Schade, sind wir doch so richtige Kaffee-Tanten.

Kürzlich stand hier noch übrigens Lenin, mittlerweile entfernt, zur Seite gestellt – und doch bleibt der Platz, leer. Nur noch die Bodenplatte. Ach ja, und dann das Stadtmuseum. Wir sparen uns das Museum, freuen uns aber auf die Besichtigung von Kreenholm, später. Ein Museum pro Tag reicht uns.

Narva ist irgendwas, was man mit «Dazwischen» beschreiben kann. Vielleicht ist es das, was solche Orte ausmacht: Dass sie nicht erzählen, was sie sind, sondern uns dazu bringen, uns zu fragen, was es bedeutet, an einer Grenze zu stehen.

Aber was wirklich toll werden wird: die Insel Kreenholm mit seinen wunderbaren Geschichten!

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Michael und Sabine
1 Monat zuvor

Narva hatte uns tief beeindruckt. Wahrlich keine schöne Stadt, aber hier wird die Zerrissenheit dieses Landes so richtig sichtbar. Sicher hatten die Esten, als es noch Teil Russlands war, keine gute Zeit. Aber das, was heute hier passiert, hat mehr den Geruch von Rache als den Willen zu einem auskömmlichen Miteinander. Wir waren jedenfalls reichlich irritiert, als wir einen kurzen Blick in die Stadt werfen konnten.