
Wir haben Glück, heute, nur einmal pro Woche, findet eine Führung statt. Anmelden können wir uns nicht, die Website ist irgendwie 90er. Also fahren wir einfach hin, ohne Gewissheit, ob wir hineinkommen. Vor Ort stellen wir uns in eine lange Warteschlange, es sind viele Menschen, weit über hundert. Die meisten haben Eintrittskarten, wir nicht. Wir sind etwas unsicher; ob hier alle noch Platz finden? Doch es gibt drei Guides, verteilt auf verschiedene Sprachen. Einer spricht Russisch, einer Estnisch, einer Englisch. Wir schliessen uns der englischen Gruppe an. Auch wenn ich mit der russischen Gruppe liebäugele.
Kreenholm ist keine gewöhnliche Fabrik. Es ist eine Insel mitten im Fluss Narva, eine eigene kleine Welt. Gegründet wurde die Kreenholm Manufacturing Company 1857 vom deutschen Unternehmer Ludwig Knoop. Bald schon arbeiteten hier bis zu 12.000 Menschen; Kreenholm wurde einer der grössten Textilbetriebe Europas und das industrielle Herz von Narva.
Wir hatten gehofft, noch Spindeln surren zu hören, den Geruch von Baumwolle zu riechen und das Rattern von Webstühlen zu hören. Doch viel von den Maschinen ist verschwunden, verstummt. Eine einzige ist zu beobachten, tatsächlich eine aus Schweizer Produktion. (Gerd strahlt übers ganze Gesicht und macht etliche Fotos von dem Formenschild.) Stattdessen beeindruckt das Gesamtbild: diese mächtige Fabrik, die Etage um Etage sich über die Insel schob, massives Backsteinwerk. Ein Denkmal des Industriezeitalters.
Wir sind begeistert. Das Licht fällt in warmen Strahlen durch die zerbrochenen Fenster, taucht die verfallenen Hallen in ein seltsam schönes Leuchten. Die Sonne scheint voll schön auf diesen Lost Place, und da ich genug Fantasie habe, sehe ich hier das Leben vor meinem inneren Auge.
Kreenholm ist still. Und ruhig. Doch wer durch die verlassenen Räume geht, kann spüren, wie es hier mal war. Das Dröhnen der Maschinen, das Stimmengewirr der Arbeiter, das Rascheln von Stoffe – alles klingt wie aus einer anderen Zeit. Dieser Ort hat nicht nur Stoffe hergestellt, er hat Narva geformt.
Früher war Kreenholm auch sozial vorbildlich. Krankenhäuser für die Arbeiter, Krankenversicherungen, Kinderbetreuung – hier war man der Zeit voraus. Eine Industriestadt in der Stadt, deren ganzes Leben von der Manufaktur geprägt wurde. Aber so soziel, wie man vermutet, war das Ganze gar nicht: Knoop wollte einfach, dass seine Leute rasch wieder gesund sind, keine langen Wege gehen müssen, ihre Kinder nicht selbst betreuen sollen und er wollte die Kontrolle behalten. Denn auch Ärzte und Kinderbetreungspersonen wurden von ihm bezahlt und befragt. Hat sich irgendwie zu heute im Westen nicht viel geändert, oder?
1872 hallt ein wichtiger Ruf durch die Geschichte der Fabrik: der erste grössere Arbeiterstreik Estlands fand hier statt. Menschen erhoben ihre Stimme gegen härteste Arbeitsbedingungen. Jahrzehnte später, in sowjetischer Zeit, wurde Kreenholm dann zur grössten Textilfabrik im Baltikum; die Hallen bis in die 1970er Jahre gefüllt mit Zehntausenden von Arbeiter*innen. Die Geschichte nahm 2010 ein abruptes Ende, als das Unternehmen Insolvenz anmeldete – die Textilproduktion wanderte Richtung Asien weiter – und die Hallen still wurden.
Doch Kreenholm ist mehr als Maschinen und Backstein. Jedes Jahr im August erwacht die Insel neu – mit dem Kreenholm-Festival, einem kulturellen Ereignis, das Kunst, Theater und Musik auf die industrielle Kulisse holt. Ein Moment, in dem die Geschichte mit der Gegenwart tanzt, in dem Narva einmal anders atmet und zeigt, wie eng Erinnerung und Innovation hier beieinanderliegen. Leider müssen wir weiter, wie gern wären wir zu diesem Festival hier. Aber der nächste August kommt bestimmt!
Bei unserem Besuch fällt uns auch die eigenartige Ruhe des Flusses Narva auf. Wenig Wasser führt er mit sich. Wir erfahren, dass Russland den Fluss staut, das Wasser für sich beansprucht. Estland – hier am Ufer – ist davon abhängig, steht aber machtlos neben der russischen Wasser-Politik. Kein angenehmer Gedanke. In einer Landschaft, deren Grenzlinie der Fluss selbst sein soll, ist das Fehlen von Wasser schon schmerzvoll.
Während unseres Rundgangs werden wir von der estnischen Grenzpolizei kontrolliert. Man will sicher gehen, dass nichts passiert, was man vermeiden könnte. Die Atmosphäre ist angespannt, unser Guide scheint ängstlich. Mit Blick zurück, vier Wochen später, verstehen wir diese Vorsicht besser – das Vertrauen zwischen Ost und West ist zerbrechlich, voll gegenwärtiger Unsicherheiten.
Unser Guide erzählt auch von einem überraschenden Bezug zur Gegenwart: Ursula von der Leyen zählt zu den Erbinnen des Gründers Ludwig Knoop. Ein Satz, den er irgendwie stolz ausspricht. Wir tauschen einen Blick, wissen nicht, ob wir lieber schweigen. Ursula von der Leyen zählt nun wirklich nicht zu den Personen, die wir bestaunen. Maximal kopfschüttelnd bestaunen.
Quellen:
- Englische Unternehmens-Homepage (Herstellung heute): https://krenholm.ee
- Wikipedia-Artikel zur Flussinsel Kreenholm: https://de.wikipedia.org/wiki/Kreenholm
- Wikipedia-Eintrag zur Kreenholm-Textilfabrik: https://de.wikipedia.org/wiki/Kreenholmi_Manufaktuur
- Offizielles VisitEstonia-Profil des Kreenholm-Geländes mit Führungsangeboten: https://visitestonia.com/de/das-kreenholm-gelande-und-die-kreenholm-manufaktur
- Buchbare Führungen durch die Kreenholm-Fabrik (VisitEstonia): https://visitestonia.com/de/gefuhrte-tour-durch-die-kreenholm-fabrik-immer-sonntags
























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Wie geht es euch damit so nah an Russland zu sein?
Ich bin ein gutes Stück weiter weg und ich mache mir große Sorgen um die baltischen Länder.
Liebe Rachel,
tatsächlich geht es uns ganz gut damit. Ja, es könnte gefährlich sein. Und ja, das kann es auch irgendwo anders auf der Welt.
Dann dürften wir wohl kaum mehr reisen. Und vermutlich auch nicht in irgendwelchen grossen Städten dieser Welt durchs Bahnhofsviertel oder auf Weihnachtsmärkte gehen.
Wir haben uns entschieden, den Medien und den Infos der auswärtigen Ämter weniger zu trauen und dafür mehr uns selbst vertrauen. Das mag irritieren, aber bisher hat es für uns so gepasst.
Allerdings möchten wir betonen, dass wir unsere Reise machen. Jeder und jede darf selbst entscheiden, wohin es geht. ❣️
Ganz liebe Grüsse.