Marokko – Gedanken der Dankbarkeit, der Vorfreude und des Abschieds

Marokko – Gedanken der Dankbarkeit und Vorfreude zum Abschied Lesedauer etwa 7 Minuten.

Während ich gerade eben die letzten Tage auf dem Blog dokumentierte, fällt mir auf, dass ich diese Momente bereits einmal festgehalten hatte – und zwar genau im Augenblick des Geschehens. Vielleicht sollte ich öfter in meinen digitalen Notizen stöbern. Da ich mir bereits die Mühe, oder besser gesagt, die Freude gemacht habe, diese Gedanken niederzuschreiben, möchte ich sie nun auch hier veröffentlichen.

Wir treiben gemächlich entlang der Mittelmeerküste, wohl wissend, dass in drei Tagen unsere Fähre ablegt. Sie wird uns nach Frankreich bringen, und von dort aus führt uns der Weg zügig zurück nach Hause, nach Bern. Unser Sohn stellt sein Buchprojekt vor, wir haben Termine bei unserer neuen Gemeinde und müssen bei den Handwerkern Steckdosen, Toilettenschüsseln und Küchenfronten auswählen. Ein schöner und spannender Frühling in der Schweiz erwartet uns.

Doch wie fühlen wir uns in diesen letzten Tagen hier? Es ist schwer zu sagen. Ein Hauch von Traurigkeit schleicht sich ein, denn das Abenteuer neigt sich dem Ende zu. Zu Hause kennen wir alles – oder zumindest glauben wir das.

Ich geniesse jeden Moment, in dem ich mit meinem Kaffeepott in der Morgensonne am Meer sitze, Tagebuch schreibe, stricke oder einfach nur den Anglern zuschaue. Das Wetter könnte besser sein, aber jeder Sonnenstrahl gehört mir. Eingemummelt im Wind, bin ich zutiefst dankbar für das Leben, das ich gerade führe. Wer hätte das gedacht? Geboren in einem Land, das mir die Ostsee als Meer und das Schwarze Meer als exotische Variante bot. Geboren in einem Land, in dem ich mit meinem Freiheitsdrang und meinem Gleichberechtigungssinn wohl kaum glücklich geworden wäre. Hier beginnt meine grosse Dankbarkeit. 1989, damals gerade 15, öffnete sich die grosse Welt für mich. Ich selbst habe nichts dafür getan. Gar nichts. Dankbar bin ich jenen, die eine ebenso grosse Freiheit spüren und leben wollten und damals genau dafür auf die Strasse gingen.

Irgendwann kam dann die zweite Freiheit: das Internet. Es brachte mich in Kontakt mit Berufen und beruflichen Konferenzen, die mich weiterentwickelten und mir die Möglichkeit gaben, über Grenzen zu gehen. Ja, so richtig weit bin ich nicht gekommen, aber immerhin: eine Landesgrenze habe ich geschafft, die zur Schweiz. Wieder einmal bin ich voller Demut für die Möglichkeit, dass ich einfach auswandern konnte. Und vor allem in die Schweiz einwandern. Denn, das merken wir besonders auf unseren Reisen so oft, auch das ist nicht selbstverständlich. Und ich wurde sogar Schweizerin. Okay, das mit der Sprache klappt schon ganz gut, bei den vielen kulturellen Unterschieden meiner beiden Länder gebe ich zu, dass ich mir jeweils die für mich bessere Option aussuche. Auch nicht übel. Entscheidungsfreiheit. Ein wichtiger Wert für mich.

Und irgendwann die Entscheidung, mehr als nur in Ferienwochen zu reisen. «Ach, das geht?» Erst war uns das nicht wirklich klar, irgendwann sahen wir Möglichkeiten und jetzt sind wir schon knapp fünf Jahre unterwegs. Ja, Reisen ist nicht Urlaub, darüber hatten wir schon mal geschrieben, aber es ist toll. Wir können entscheiden, was wir uns anschauen.

Wir müssen tagtäglich entscheiden, wo wir schlafen, woher wir Wasser bekommen und in welcher Währung wir in den nächsten Tagen oder Wochen bezahlen wollen. Und wir entscheiden viel. Vielleicht sind unsere Entscheidungsmuskeln seit unserer Reise noch stärker geworden. Und es ist wie bei jedem Training: wir können uns auf diese Muskeln verlassen.

Und wir können uns auf uns verlassen. Bin ich mal genervt von der grossen Auswahl an Möglichkeiten, reicht ein Blick rüber und Gerd nimmt mir die Entscheidung für einen Stellplatz ab. Will Gerd mal wieder nicht zum aktuellen Ort recherchieren, bin ich es, die entscheidet, ob wir die Moschee für Kultur, den Souk fürs bunte Leben oder das 5-Sterne-Hotel zum gemütlichen Teetrinken ansteuern. Auch dafür sind wir beide dankbar. Dass wir uns haben, dass wir abgeben können und ebenso übernehmen. Dass die eine vor Ideen sprudelt (besonders für neue Reisedestinationen) und der andere das Orga-Zeug im Blick behält.

Und während wir nun am Mittelmeer sitzen, die letzten Tage in Nordafrika hier verbummeln, macht sich eine Art von Melancholie breit. Abschied.

Jedes einzelne Mal vibriert es in uns, wenn wir ein Land zum ersten Mal bereisen, jedes Mal sind wir neugierig, lernen, entdecken, wundern und erfreuen uns. Irgendwann dann kommen wir in Routine, dann können wir geniessen, ohne ständig zu überlegen, wie «das hier so abläuft».

Und jetzt, wo wir nach mehr als zehn Wochen voll die Profis sind, geht es weiter. Gern würden wir bleiben, gern würden wir die Route nochmal machen, mit anderen Augen, wir würden mehr Details sehen, würden einiges, für uns Überflüssiges, auslassen. Würden tiefer eintauchen und gleichzeitig langsamer reisen. Wären vielleicht nicht mehr so getrieben von der Neugier, sondern vom Wunsch, mehr Erkenntnisse zu erlangen. Aber jetzt, so kurz vor dem Abschied von diesem wunderschönen Land mit seinen wunderbaren Menschen, zeigt sich eine zarte Traurigkeit. Eine jener Art, die uns fragt: Kommen wir wieder hierher? Wird es uns dann wieder so gefallen? Schaffen wir es, allein die schönen Erinnerungen in unseren Herzen zu speichern?

Und statt sich tagelang in die Traurigkeit zu verlieren – was allerdings auch gar nicht so schlecht wäre, Trauer darf und muss sein – machen wir das, was wir am besten können und am liebsten tun: Wir sind dankbar. Wir sitzen am Strand, okay, wir sitzen im Felix, der am Strand steht, beobachten die Wellen, den Wind und die Regentropfen auf unseren Fenstern und überlegen, was wir doch alles Tolles erleben durften. Und machen uns ein letztes Mal auf, um in einem Souk das Treiben zu beobachten, tauchen in Geräusche, Gerüche, Farben und das Gewusel ein. Versuchen, noch ein letztes Mal für diesen Reiseabschnitt das arabische, für uns exotische und wunderbare Leben, wie es draussen auf der Strasse stattfindet, aufzusaugen. In der Hoffnung, dass es uns lange trägt.

Und wir machen eine Liste der Dinge, auf die wir uns freuen. Denn Vorfreude auf das, was kommt, ist ja auch etwas richtig Tolles. Es mag vielleicht für manch einen nicht ganz klar sein, worauf wir uns freuen, aber hier ein paar Beispiele:

  • Viel Zeit mit Familie und Freunden verbringen
  • Käse und Schokolade in bester Qualität
  • Geldautomaten an jeder Ecke
  • Die allerschönsten Berge der Welt
  • Wasser überall in Trinkwasserqualität
  • Gute, saubere Strassen und funktionierende Verkehrsregeln
  • Eine Sprache, die ich verstehe (nur Gerd spricht Französisch, ich hatte es hier in Marokko nicht ganz einfach)
  • Wieder tief(er)gehende Gespräche
  • Hausgemachten Eistee in unseren Lieblingscafés
  • Bio-Lebensmittel
  • Mülltonnen
  • Das Wissen, wie alles läuft
  • Die Preise nicht verhandeln zu müssen (damit kommen wir nach Jahren auf Reisen immer noch nicht klar)
  • Kunden und Arbeitskollegen wieder treffen
  • Kino, Theater, Konzerte, die wir verstehen
  • Mit sauberen, pünktlichen und gut vernetzten Bussen und Bahnen fahren
  • Den Termin bei unserer Werkstatt und das Vertrauen, dass die ihren Job wirklich gut machen
  • Gespräche in unserer Muttersprache, tiefgehend und verständig. Hier beschränken sich die Gespräche eher auf «Wie geht’s?», «Woher kommst du?»

Irgendwie freuen wir uns auf einen guten oder sogar hohen Standard im alltäglichen Leben. Und sind mehr als dankbar, dass wir wählen können. Und bewusst, dass das nicht jedem Menschen gegeben ist.

Marokko – Gedanken der Dankbarkeit und Vorfreude zum Abschied
Marokko – Gedanken der Dankbarkeit, der Vorfreude und des Abschieds

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Beate
Beate
4 Monate zuvor

Vielen Dank, dass ich auf euren Wegen wieder „dabeisein“ durfte!

Beate
Beate
4 Monate zuvor
Reply to  Heike Burch

Klar ihr Lieben, ich bin „dabei“! In den Norden noch lieber! Das schreit doch nach Island-Wolle, oder? 😀 Liebe Grüße…

Bianka
4 Monate zuvor

Liebe Heike, lieber Gerd, vielen herzlichen Dank, dass ich auf Eurer Reise durch Marokko wieder mit dabei sein durfte. Wir haben zum siebten Mal den Winter mit dem Wohnmobil in Skandinavien verbracht und können uns noch immer nicht vorstellen, während der kalten Jahreszeit in den Süden zu fahren. Umso mehr freue ich mich über Eure authentischen Reiseberichte und die wunderschönen Fotos. Im Gegensatz zu anderen Überwinterern, die lediglich die Zeit in der Wärme verbringen wollen, taucht Ihr wirklich in die Natur und Kultur ein. Eure Bilder machen durchaus Lust, mal nach Marokko oder Tunesien zu reisen.
Danke auch für Deine Gedanken hinsichtlich Freiheit. Ich war 20 Jahre alt als die Mauer gefallen ist und bin genauso dankbar wie Du, dafür dass ich so viele freie Entscheidungen für mein Leben treffen konnte und dafür, dass mein Mann und ich im Laufe der Jahre alle sieben Kontinente bereisen durften. Wie Du treffend geschrieben hast, wären wir sonst zwischen Ostsee und dem „exotischen“ Schwarzen Meer unterwegs gewesen. Wir hätten viele tolle Reisemomente nie erlebt und wahrscheinlich auch kein eigenes Wohnmobil gefahren. Gut, dass wir heute so frei leben dürfen.
Ich freue mich schon auf den Bericht, wenn die nächste Reise beginnt und wünsche Euch viel Erfolg bei der Planung Eurer neuen Wohnung. Liebe Grüße und alles Gute für Euch.

Bianka
4 Monate zuvor
Reply to  Heike Burch

Ich habe übrigens ein vegetarisches Harira-Rezept gegoogelt und nachgekocht. Ohne euren Reisebericht wäre uns diese leckere Suppe entgangen. Danke für den kulinarischen Tipp.