
Wir sind auf dem Weg nach Viivikonna, einer kleinen Stadt im Nordosten Estlands. Unser Felix brummt gleichmässig über schmale Strassen, die durch Felder und flache Wälder führen. Abseits der Hauptstrasse bröckelt der Asphalt. Am Rand stehen rostige Strommasten. Zeugen einer Zeit, in der dieser Landstrich noch voll Leben war.
Je näher wir Viivikonna kommen, desto stiller wird es. Die Stadt wirkt, als hätte sie jemand vergessen. Zwischen grauen Mehrfamilienhäusern spriessen junge Birken, Gräser sprengen die Risse im Beton. Und doch liegt etwas Gleichmütiges in der Luft. Kein Grauen, keine Schwermut – eher eine Resignation, die ins Friedliche kippt. Scheinbar wohnen auch noch vereinzelt Menschen hier, es ist nicht die beste Gegend, wo wir uns wohnen vorstellen könnten. Zwischen den Häusern ist vereinzelt der Rasen frisch gemäht.
Eigentlich wollen wir am Rand einer breiten, namenlosen Strasse parken. Aber Lust zum Aussteigen haben wir nicht. So lenkt Gerd unseren Van durch die einzelnen Strassenzüge. Vor uns die Überreste von Wohnblocks, in deren Fenstern längst kein Glas mehr steckt. Dazwischen ein Blumenbeet, akkurat gepflegt. Eine Frau, vielleicht siebzig, giesst ihre Gemüsebeete, als wäre hier nichts Besonderes. Wir grüssen, sie nickt freundlich. Wer wohnt hier noch? Uns warum?
Viivikonna entstand in den 1920er Jahren als Bergarbeiterstadt. Die Region war reich an Ölschiefer, einem fossilen Gestein, das Energie lieferte. In der sowjetischen Zeit florierte der Abbau – Tausende arbeiteten in den Minen, und die Stadt wuchs rasch. Als die Industrie in den 1980er Jahren einbrach, setzte der Exodus ein: Schulen schlossen, der Lebensmittelladen verschwand, Busverbindungen wurden ausgedünnt. Heute leben hier noch rund 50 Menschen.
Die Überreste der Stadt sind Mahnmal und Wohnort zugleich. Manche Gebäude wurden notdürftig repariert, andere sind längst Ruinen. Auf einer Wiese stehen neue Spielgeräte, daneben Fitnessstationen – vermutlich ein Versuch, die Gemeinde zu stabilisieren oder Touristen anzulocken, die das «verlorene» Viivikonna sehen wollen. Den Postbriefkasten leert man weiterhin regelmässig.
Die alte Schule steht leer, die Fenster sind eingeschlagen, das Dach halb eingestürzt. Man sieht noch, wo einst Kinderzeichnungen an den Wänden hingen. Weiter hinten der Wasserturm – rostrot, aber standfest. An manchen Fassaden hängen noch Vorhänge, halb zerfetzt. Auch hier war mal ein «Zuhause».
Wir fotografieren. Die Drohne lassen wir nicht fliegen, wir sind zu nah an der russischen Grenze und haben Respekt. Die Situation im Moment lässt nicht so viele Drohnenflüge zu. Denken wir. Viivikonna lässt sich nicht festhalten, ohne dass man spürt, wie nah Vergangenheit und Gegenwart hier nebeneinander leben. In der Ferne bellt ein Hund, irgendwo dudelt ein Radio. Kleine Zeichen, die zeigen, dass trotz allem Leben geblieben ist.
Zwischendurch denke ich an die Menschen, die hier einst arbeiteten, an die Geschichten, die in den Mauern stecken. Was bedeutet es, an einem Ort zu bleiben, der sich auflöst? Vielleicht ist es Mut, vielleicht Gewohnheit, vielleicht einfach Heimat, die man nicht verlässt, selbst wenn sie längst im Schatten liegt.
Felix steht inzwischen leicht schräg, der Boden ist uneben. Wir trinken einen Kaffee auf der Stufe am Eingang und blicken über die leeren Strassen. Komisch hier. Und wir merken, dass LostPlaces eigentlich nichts für uns sind. Vielleicht zum Fotografieren, aber zum Erleben irgendwie nicht so.
Eine Begegnung mit der Stille. Viivikonna zwingt nicht zur Melancholie, aber es zeigt, was bleibt, wenn nichts mehr funktioniert. Vielleicht ist das die ehrlichste Form von Geschichte – nicht das, was auf Tafeln steht, sondern das, was zwischen verfallenen Mauern weiteratmet.













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