Iran – Abschied vom bisher grössten Abenteuer unseres Lebens

Iran – Abschied vom bisher grössten Abenteuer unseres Lebens

Wir sitzen in Van, in der Türkei in einem Café und lesen gerade die News der letzten Nacht. Gott schütze alle Menschen, egal auf welcher Seite dieses sinnlosen Geschehens!


Ich mache es kurz: Wir hinken mit unseren Beiträgen gut und gerne zwei bis drei Wochen hinterher. Und all unsere Erlebnisse werde ich hier noch aufschreiben, darauf freue ich mich schon sehr.

Trotzdem haben wir uns gestern, Samstag, 13.04.2024, am frühen Morgen entschlossen, unsere Iranreise zu beenden. Vor uns lagen über 600 Kilometer Autobahn, die leider nicht mit den Autobahnen in europäischen Ländern zu vergleichen sind. Die angenehmste Reisegeschwindigkeit liegt hier bei 70 bis 80 km/h. Die vielen Schlaglöcher machten unserem Felix ein letztes Mal zu schaffen. Wir konnten uns kaum unterhalten, im Radio liessen wir – meine Güte, sind wir romantisch – unsere neu zusammengestellte Iran-Playlist laufen.

Warum sind wir nach knapp drei Monaten wieder abgereist, obwohl wir extra eine Visumsverlängerung beantragt hatten? Zwei Gründe: Die aktuelle politische Situation und: wir sind müde. Sehr müde. Das Land ist so schön, so liebevoll, so überraschend und voller toller Menschen. Und gleichzeitig so intensiv, es hat uns so viel abverlangt, wir sind erschöpft von Erlebnissen, von Geräuschen, von fehlender Privatsphäre, von Gesprächen, von Erzählungen.

Wir sind auch müde, aber nie uninteressiert an der Situation im Land. Ja, wir können es auch sagen: von der Zukunfts- und Hoffnungslosigkeit der Menschen.

Es macht uns müde, die vielen Gespräche über die Unzufriedenheit in einem Land, das von seinen Menschen doch so geliebt wird. Ich werde von nun an auch etwas offener über die Gespräche schreiben, die wir geführt haben.

Ich vermute, dass jede und jeder von euch schon einmal gedacht hat: «Ist das wirklich alles so toll im Iran?» Natürlich nicht, wie überall auf der Welt gibt es immer zwei Seiten. Aber wir haben vorsichtshalber nicht alles hier in unserem Blog dokumentiert. Selten haben wir Bilder von Tanzenden gezeigt, von Frauen ohne Hijab. Ich habe kein Wort geschrieben über die vielen wirklich schönen und intensiven Gespräche über den grossen Unterschied zwischen dem iranischen Volk und dessen Regierung.

Ich selbst bin in der DDR aufgewachsen, in einer Diktatur, und habe gelernt, was es heisst, vieles nicht zu sagen, aus Angst vor Repressalien. Vieles habe ich hier im Iran wiedererkannt. Und ich gebe es gleich zu: Der Iran hat mich mit Vollgas zurück in meine Kindheit und Jugend katapultiert. Dinge, die ich schon verarbeitet glaubte, kamen mit voller Wucht wieder hoch. Und wollten gesehen werden. Bei jeder Polizei- und Passkontrolle zuckte ich ängstlich zusammen. Vielleicht in einem späteren Beitrag, denn die kommen noch, dazu mehr.

Ja, Iran war intensiv, und Iran war das Schönste, was wir je erlebt haben.

Und so rollen wir noch einmal durch ein wunderschönes Land, das Wetter und die Landschaft zeigen sich von ihrer schönsten Seite. Wir kaufen Datteln für unsere Freunde und Familie, essen ein letztes Mal iranisches Essen, treffen unseren Freund Erfan, der uns schon bei der Einreise super unterstützt hat.

Wir sitzen mit ihm in einem Café in Khoy und teilen ihm mit, dass wir noch heute das Land verlassen wollen. Er wundert sich, warum die Eile?

Ja, wir verfolgen die Weltlage seit Tagen. Und ja, wir haben nur die Quellen, die jeder hat: Medien aus aller Welt, Botschaftsinformationen und so weiter. Und wir beide merken: Es fühlt sich besser an, den Iran zu verlassen. Diese Entscheidung ist subjektiv, viel persönlicher geht es nicht. In unserer Iran-Traveller-WhatsApp-Gruppe trudeln so viele Gedanken über mögliche Gefahren und Reisehinweise ein, dass wir kaum nachkommen, sie alle zu lesen.

Als wir da bei Erfan im Café sitzen, wissen wir beide: Wir haben uns richtig entschieden. Egal, wie sich die politische Lage entwickelt, egal, ob die Grenzen offen bleiben oder nicht, egal, was die Welt um uns herum für einen Blödsinn macht: Wir fahren heute über die Grenze.

Erfan merkt, dass wir es ernst meinen. «Welche Grenze wollt ihr nehmen?», fragt er. Die nördliche, da ist die Gefahr geringer, dass wir diese Nummernschildstrafe bezahlen müssen (eigentlich muss man, wenn man länger als 10 Tage im Iran bleibt, iranische Nummernschilder haben. Die haben wir natürlich nicht und es liegt im Ermessen der Grenzbeamten, ob wir 2 oder sogar 9 Dollar pro Tag Strafe zahlen müssen). Aber Reisende haben Erfan berichtet, dass es gerade heute an der Nordgrenze kilometerlange Staus in beide Richtungen gab, weil es einen Computerausfall an der Grenze gab.

Also entscheiden wir uns schnell um: Wir nehmen Razi, die mittlere Grenze, auch auf die Gefahr hin, dass wir Strafe zahlen müssen. Dann ist es eben so. Erfan schaut uns an, «echt jetzt? Razi?», wir nicken, er nickt und sagt: «Na gut, ich komme mit, ich helfe euch!» Razi ist nicht weit von seiner Stadt entfernt, er kann mit dem Taxi zurückfahren.

So sitzen wir zu dritt in unserem Felix, kaufen ein letztes Mal frisches Brot an der Strasse (eigentlich genau wie bei unserer Einreise, auch hier sind wir mit Erfan gefahren, auch hier haben wir frisches Brot gekauft!) und stehen vor einer fast menschen- und autolosen Grenze Razi-Kapiköy. Erfan schnappt sich alle Papiere, flitzt hierhin, dorthin. Wir zahlen die nötige Benzinsteuer, die man bei der Ausreise bezahlen muss, und er kommt strahlend zurück: Keine Nummernschildstrafe heute. Wow! Wie er das wieder gemacht hat? Wir wissen es nicht, aber ich habe die ganze Zeit beim Universum bestellt: «Maybe we are today the Lucky ones!»

Weiter geht’s, Passkontrolle, Autokontrolle. Wir verabschieden uns von Erfan, er muss zurück, Gerd muss zu Fuss weiter, ich fahre unseren Felix über die Grenze. Eins, zwei, drei weitere Passkontrollen. Inzwischen türkische Seite. Ich lege den Hijab zur Seite und trete ohne Kopftuch dem ersten Beamten entgegen. Fühlt sich ungewohnt an. Dann eine halbe Stunde Pause, das ganze Grenzteam muss beten.

Weiter, ich fahre in einen Hangar, sie wollen unter unsere Felix schauen. Sollen sie doch. Im Auto selbst wundern sie sich über unseren Vitaminvorrat, so viel bräuchte man doch gar nicht, man müsse nur genug Gemüse essen. «Lass das meine Sorge sein», denke ich, sage aber, dass wir lange unterwegs sind. Zigaretten? Nein, keine einzige. Wie viel Benzin? Keinen Tropfen? Warum nicht? Weil wir froh sind, wieder sauberen Diesel zu tanken und unser Felix aufatmen kann. (Den letzten Teil denke ich nur).

Wir lachen viel, die Leute sind freundlich. Die Strategie, dass ich als Frau über die Grenze fahre, hat sich bewährt. Man lässt sich Zeit, aber man lässt mich auch in Ruhe.

Eine letzte Kontrolle, ein letztes Merhaba und ein erstes Hos Geldinez in Türkiye und schon bin ich nach ca. 3 Stunden (Rekord für diese Grenze, wie mir Erfan später per WhatsApp mitteilt) in der Türkei, wo Gerd schon auf mich wartet.

Wir sind jetzt müde, stellen uns an den Strassenrand und wollen erst mal ausschlafen. Das Einschlafen will nicht so recht gelingen, wir reden, lassen unseren Gedanken und Gefühlen freien Lauf. Und bestätigen uns noch einmal, dass unsere Entscheidung gut ist, so wie sie ist.

Und jetzt sitze ich in unserem Felix, immer noch in der Nähe des Grenzübergangs, die Sonne des nächsten Morgens scheint, ich sitze zum ersten Mal seit Monaten ohne Hijab in meinem eigenen Haus und schreibe unsere Erinnerungen auf. Es ist mir ein Bedürfnis, genau diesen Bericht tagesaktuell aufzuschreiben und auch zu veröffentlichen.

Wir sagen Danke für eine wunderbare Zeit im Iran. Wir sagen Danke an alle, die dieses Erlebnis so unglaublich schön gemacht haben. Wir sagen Danke Iran. Und wir drücken die Daumen für ein Land, dessen Menschen einfach so unglaublich wunderbare Menschen sind. Wir drücken Euch alle die Daumen für die Zukunft. Wir wünschen euch Frieden und wir wünschen euch Freiheit für alle Entscheidungen! Und wir wünschen Euch Zukunft. Denn die, das habt ihr uns immer wieder gesagt, vermisst ihr am meisten.

leben pur

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Wir stellen AdBlue wieder an ✅


Merci fürs «Mitreisen»

Wir überlegen, im Sommer wieder eine Reisepause zu machen und unsere Familien in Deutschland und der Schweiz zu besuchen. Mit dabei ist eine Idee, einen Vortrag über unsere lange Reise bis an den persischen Golf vorzubereiten. Falls Ihr Lust hättet, was würde euch am meisten interessieren? Hier werden wir auch Geschichten erzählen, die hier auf dem Blog keinen Platz finden. Wir denken an den Raum Bern und Berlin – einfach, weil wir da Familie haben. Aber auch andere Orte wären vorstellbar. Schreibt uns gern.

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9 Kommentare
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Rachel
Rachel
16 Tage zuvor

Whow Heike.
Dieser Bericht hat mich jetzt so richtig angepackt. 😔
Ja, so ein schönes Land mit wunderbaren Menschen.
Und dann gibt es ein paar verrückte Männer, die einer großen Menge von Leuten das Leben schwer machen. 😔
Sehr traurig ist das.

Ich habe euch in gewisser Hinsicht beneidet, dass ihr all diese schönen Dinge sehen und erleben könntet.
Aber ich dachte mir auch, dass es da auch noch eine andere Seite gibt.

Ich bin froh, euch auf dem Weg nach Hause zu wissen.
Zumindest in Gefilden, die weniger gefährlich sind.
Zumal die Weltlage im allgemeinen nicht als „toll“ zu bezeichnen ist.
Der nächste Verrückte steht in den USA schon in den Startlöchern um noch mehr Unfrieden zu stiften.

Ich wünsche euch eine gute Heimreise.

Herzliche Grüße
Rachel

Dirk
Dirk
16 Tage zuvor

Schön das ihr wieder „da seid!“ Habe mich oft gefragt, bekommt ihr neben euren ganzen tief ergreifenden Erlebnissen etwas von der weltpolitischen Lage mit.
Dann verarbeitet jetzt eure ganzen Eindrücke.

Euch bei einem Vortrag erleben würden wir gerne. Sind aber im Raum Düsseldorf/Köln weit von euren Familien entfernt. Fragen an euch, boah, wo soll man da anfangen….

Liebe Grüße
Dirk

Babs
Babs
16 Tage zuvor

Vielen Dank ihr Beiden für den aktuellen Zwischenbericht. Ich habe seit gestern mehr an euch gedacht. Erholt euch gut und ich freue mich schon auf die weitere Reiseberichte.

Schlegel guy
Schlegel guy
16 Tage zuvor

Ouf content que vous soyez sorti !

Alma
Alma
15 Tage zuvor

Liebe Heike, ich verstehe genau, was Du meinst, mit Deinen Erinnerungen. Geht mir genau so (wenn auch nicht im Iran).
Liebe Grüße aus Dresden

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