Schweiz – Was Heimat bewirken kann

Schweiz – Was Heimat bewirken kann

Manchmal muss man laut denken. Oder Denkschreiben. Darüber nachdenken, wie das Leben sein sollte und wie es ist. Was die Erwartungen waren, was sie sind und ob sie erfüllt werden können.

Unser Reisetagebuch hier dient zum einen dazu, euch mit auf unsere Reise zu nehmen. Zum anderen aber, und das ist nicht minder wichtig, um unsere Erlebnisse festzuhalten und in gewisser Weise auch abzuschliessen.

Denn wer wie wir so viel erlebt, kaum Erlebnisroutinen hat, ist ständig voll von Eindrücken. Irgendwann ist der schönste Sonnenuntergang nur noch ein Sonnenuntergang. Der kleine, verspielte, vor sich hin plätschernde Wasserfall auch nur ein weiterer Wasserfall. Und die historisch bedeutsame Ausgrabungsstätte einfach nur «wieder alte Steine».

So braucht jeder Langzeitreisende irgendwann eine Pause. Die einen sprechen von Reisemüdigkeit, wir würden es eher Aufnahmekapazitätsüberschreitung nennen (was für ein cooles Wort). Wir sind nicht reisemüde, ganz und gar nicht. Unser Geist und unser Gedächtnis sind einfach voll und brauchen Ruhe. Das Erlebte verarbeiten. Sortieren. Und dann formen sich daraus neue Reisewünsche, neue Lebensstrategien.

So reden wir viel miteinander, reden auch über scheinbar Belangloses. Und merken, erst wenn wir uns wirklich viel Zeit füreinander nehmen, einander lange zuhören und Gedanken zu Ende denken, dass wir uns angenehm befreit fühlen, nicht gehetzt und tief in uns ruhig.

Kate Murphy schreibt in einem ihrer Bücher ein wunderbares Zitat: «Eine glückliche Ehe ist ein langes Gespräch, das sich immer zu kurz anfühlt.» Und ja, so geht es uns manchmal und wir sind immer wieder überrascht, wie viel Freude es uns macht, rund um die Uhr zusammen zu sein. Keiner von uns muss sich kurzfassen, keiner will Gedanken abkürzen oder Ideen optimieren. Und das Beste: Irgendwann kehrt Stille ein. Die Gedanken kreisen. Stunden oder Tage später nehmen wir den Faden wieder auf, denken an bestimmten Themen weiter und entwickeln so unseren Geist und unsere Interessen.

Eine besondere Art dieses Gedankenkreisen ist (bei mir, Heike) das Schreiben. Irgendwo habe ich gelesen, dass es sprechende Denker, schweigende Denker und schreibende Denker gibt. Während die Worte so dahinfliessen (am liebsten würde ich von Feder und Papier schreiben, stattdessen muss ich von Tastatur und Laptop berichten, na ja…), schliesse ich Erlebtes ab, im Bewusstsein, das Erlebte in eine Kiste gepackt zu haben. Jederzeit kann ich in die vergangenen Gefühle eintauchen, Bilder anschauen, mich erinnern. Eine wunderbare Art, das Erlebte zu verarbeiten. Und da ich ja zeitversetzt schreibe, hole ich die Emotionen und Fakten noch einmal hervor, durchlebe sie noch einmal und spüre, welche Teile mir besonders gefallen, welche weniger und welche ich gerne vertiefen oder wiederholen würde.

Aber wie war das, als wir uns für den Heimat-Urlaub bzw. Heimat-Aufenthalt entschieden hatten? Gerd wollte gerne ein paar Monate vor Ort in der Firma sein, ich hatte etwas Sorge, dass wir hier hängen bleiben. Jetzt, nach fast zwei Monaten, merke ich, wie gut uns diese Auszeit tut.

Wir besuchen Freunde und Familie, leben viel ruhiger und weniger hektisch, haben Zeit für Dinge, die sonst im wahrsten Sinne des Wortes auf der Strecke bleiben. Während Gerd vor Ort im Geschäft ist, fahre ich mit unserem Felix an die Aare, stehe dort in aller Ruhe und gehe meinen eigenen Aufgaben nach. Es bleibt Zeit für Begegnungen an ruhigen Plätzen, wir werden zum Grill(ier)en eingeladen und ich nehme mir eine Woche Urlaub vom reisenden Leben, um mit unserer Tochter an die Ostsee zu fahren.

Die letzten zwei Monate waren nicht langweilig, überhaupt nicht. Sie waren anders, eben weil vieles bekannt ist. Die Sprache, die Währung, die Gegend, die Leute, die Regeln. Das macht es manchmal ruhiger. Man kann andere Dinge wahrnehmen, muss sich nicht auf so viel Neues konzentrieren, sondern kann mehr in die Tiefe gehen.

Wir merken aber auch – und das war meine grösste Sorge -, dass in der Schweiz und in Deutschland eine deutlich schnellere Lebens-Taktung herrscht. Alles muss effizient, schnell und eilig erledigt werden. Man muss immer sofort auf den Punkt kommen. Alles muss pünktlich und genau sein.

Hier merken wir, dass viele dieser Werte nicht mehr zu uns gehören. Nicht, weil wir pünktliche Busse und Bahnen doof finden. Nein, weil wir spüren, welchen Preis die ganze Gesellschaft für dieses immer schneller, höher, weiter und vor allem besser zahlt. Noch nie haben wir in Gesprächen so oft gehört: «Dafür habe ich keine Zeit», «Nach dem Urlaub quillt das E-Mail-Postfach über» oder «In der Mittagspause muss noch schnell eingekauft werden». Beim Versuch, uns mit Freunden zu verabreden, blättern sie wochenlang in der Zukunft, um einen freien Abend in ihren Kalendern für uns zu finden.

Und wir fragen uns: Lohnt sich das? Ist es den Preis wert, immer alles richtig und besser, billiger und schneller zu haben? Lohnt sich der Preis, den die Gesellschaft, den wir alle – mal mehr, mal weniger – dafür bezahlen?

Versteht uns nicht falsch, liebe Freunde, wir wollen euch keine Vorwürfe machen. Wir sind selber Teil der Misere. Kaum sind wir in der Schweiz gelandet, sind wir wieder mittendrin. Sofort füllen sich unsere Terminkalender, sofort verschieben wir Termine auf nächste oder übernächste Woche.

Stellen wir uns offen die Frage: Was ist uns ein gesundes, zufriedenes Leben wert? Wahrscheinlich für jeden etwas anderes. Die einen haben Freude an Rallyes, an Rennen, an sportlichen oder sonstigen Vergleichen. Die anderen an gemütlichen Grillabenden, an Wanderungen durch Naturparks oder an endlosen Strickabenden.

Vielleicht ein Gedanke zum Schluss: Es ist egal, was wer wie wichtig und richtig findet. Nur wenn ich endlich weiss, was mir wichtig ist, dann tue ich alles oder zumindest vieles, um genau das zu erreichen. Zu meinem Seelenheil, zu meiner Freude. Nur dann gelingt es mir, irgendwie im Gleichgewicht zu sein. Und nur dann bin ich ein zufriedener Teil der Gesellschaft.

Und nun zum Fazit unserer letzten zwei Monate: Statt unbegründete Sorgen zu erfüllen sind wir selbst sehr erfüllt. Wir sind in der Lage, unser Leben weitestgehend selbst zu gestalten. Wir haben die Möglichkeit, in unserer Freizeit das eine oder eben das andere zu tun. Das, was sich gerade besser anfühlt, was uns guttut, was uns irgendwie gesund erscheint.

Was meint ihr dazu? Sind wir zu privilegiert für solche Gedanken? Sind wir schon zu sehr im Langzeit-Reise-Modus und zu weit weg? Oder würde es sich für den einen oder die andere lohnen, darüber nachzudenken? Lasst uns darüber reden!

Foto: Edgar von https://www.distant-horizons.de/


Merci fürs «Mitreisen»

Wir überlegen, im Sommer wieder eine Reisepause zu machen und unsere Familien in Deutschland und der Schweiz zu besuchen. Mit dabei ist eine Idee, einen Vortrag über unsere lange Reise bis an den persischen Golf vorzubereiten. Falls Ihr Lust hättet, was würde euch am meisten interessieren? Hier werden wir auch Geschichten erzählen, die hier auf dem Blog keinen Platz finden. Wir denken an den Raum Bern und Berlin – einfach, weil wir da Familie haben. Aber auch andere Orte wären vorstellbar. Schreibt uns gern.

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Rachel
Rachel
9 Monate zuvor

Meine liebe, schreibende Denkerin.

Hier eine kleine Umarmung für diesen Text.

Ja, du hast Recht.
Alles MUSS schnell, pünktlich, ordentlich erledigt werden.
Zumindest in Deutschland.

Dabei passiert es, dass man 64 Jahre alt wird (Racheli) und sich fragt,
wo die letzten 20 /40Jahre geblieben sind. 😳
Man ist schockiert WIE schnell die Zeit vergangen ist und fragt sich (also ich) :
Was habe ich eigentlich die letzten 20 /40 Jahre gemacht? 🤔

Wir werden zu diesem Leben erzogen.
Schon in der Schule wird dem Erstklässler klar gemacht, wie er zu ticken hat um ein gutes Mitglied dieser Gesellschaft zu sein.
Die Methoden sind ziemlich per fide.
Aber es funktioniert!

Ich möchte garnicht tiefer in dieses Thema eintauchen, sonst vergeht der Rest meines Lebens auch noch zu schnell.

Ich hatte ein wenig Glück.

– Hab nur ein Kind bekommen (💖) und merke wie sehr ich mich immer noch Sorge, wenn meine Wahl – Schweizerin etwas hat.
– Ich habe mit 28 angefangen zu reisen und dann doch einiges erleben können und etwas von der Welt sehen können.
– Ich habe eine Jobwahl getroffen, die es mir und meinem Kind ermöglicht hat, gut zu leben.
Besser, als es das System für mich vorgesehen hatte. 😝
– Ich habe vor 30 Jahren einen Menschen getroffen, der zum Freund und dann zu einem Schäff wurde, der mich einfach machen ließ.
ICH habe meine Arbeitszeit bestimmt, aber ich habe auch funktioniert wie ein Schweizer Uhrwerk. 🤣😂
Das war perfekt für uns beide.

Aber ich hatte auch Pech.

– Männer die mir nichts gutes wollten und mich viele Jahre meines Lebens und meine Gesundheit gekostet haben.
(Seit 8 Jahren feiere ich nun mein Single – Leben. Für MICH die einzig richtige Lösung.)
– „Freunde“, die mich im eigenen Haus beklaut haben (Schmuck im Wert von ca 8000 €)
– „Freunde“ die mich im Stich gelassen haben, als es mir richtig schlecht ging.
– Jetzt im Alter habe ich Rheuma bekommen
– u.s.w.

Was ich jedoch feststellen konnte:
Es gleicht sich alles irgendwie aus.
Pech und Glück hält sich die Waage.

Wenn man das Glück hat, nicht so sehr in dieses „deutsche“ System eingebunden zu sein, findet man auch etwas Zeit zum leben.
Ich habe mich nie komplett in dieses ausgeklügelte System eingefügt !
Hab vieles anders gemacht, als erwartet wurde.
Mein Glück. 👍

Jetzt gehe ich bald in Rente und hoffe dann Zeit zu finden.
Zeit für mich.
Zeit zum Entscheidungen.
Zeit zum Wahrnehmen.

Ich merke jedoch:
Ich bin so in diesem „ich muss funktionieren“ Modus, dass ich mir sehr schwer tu‘ zur Ruhe zu kommen.
Ich werde es mit Joga versuchen.

Fazit:
Ihr macht es genau richtig!
Eure Berufe und euer Lebensverlauf ermöglicht euch, es so zu machen wie ihr es macht.
Das können nicht viele.
Bei den meisten geht das so einfach nicht.
Es ist die Konstellation der Lebensumstände, die das möglich oder unmöglich macht.

UND , es braucht Mut ! Viel davon!

Ich könnte jetzt dann auch loslegen und reisen.
Aber…..

So mache ich einfach kurze Trips.
Oder Reisen bis 4 Wochen.
Und das, solange es mir (auch finanziell) möglich ist.
Und, es fehlt mir der Mut alles zu verkaufen und auf Reisen zu gehen.

Also freue ich mich, dass ich mit euch mitfahren darf. 😁🥰

Weiterhin eine gute Zeit!

Alles liebe vom Racheli

Rachel
Rachel
9 Monate zuvor

Es sollte “ Zeit zum Entschleunigen“ heißen! ☝️
Nicht „Entscheidungen“…..
Sorry! Das hat mich das „System“ wieder mal überlistet. 😁

Ruth Tischhauser
Ruth Tischhauser
9 Monate zuvor

Wie recht du hast. Genauso geht es uns auch. Wir reisen selber monatelang, sind frei und ungebunden. Es ist ein schönes, einfaches Leben. Irgendwann kommen wir jeweils für einige Zeit in die Schweiz zurück und der Alltag hat und wieder. Wir sind pensioniert, aber die Uhren ticken hier zu Hause anders. Das aber ist völlig normal. Hier gibt es eine Menge zu tun. Logischerweise kommt dann alles auf einmal.Arzttermine, Auto vorführen,Einladungen zu uns, zu Freunden und noch einiges mehr.
Es ist ein Rückzugsort, eben Heimat. Das wollen wir beide nicht missen. Vielleicht ist es gerade das, was das Leben( unser Leben ) so spannend macht. Für uns ist es perfekt. Wir müssen nichts, wir dürfen alles.
Liebe Grüsse
Ruth

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